Digitale Technologien durchdringen in den hochindustrialisierten Weltregionen mittlerweile beinahe alle Lebensbereiche. Der Forschungsbereich „Digitale Arbeit, Wirtschaft und Organisation“ untersucht die damit einhergehenden sozialen Transformationen und fokussiert sich dabei auf Fragen der Macht und Herrschaft. In digitalen Arbeitsverhältnissen ist teilweise eine Revitalisierung tayloristischer Arbeitsorganisation zu beobachten, die mithilfe detaillierter Überwachung und der Zergliederung von Arbeit in kleinteilige, niedrigqualifizierte Arbeitsschritte bewerkstelligt wird (Nachtwey und Staab 2015, 2016). Dabei lässt sich jedoch auch eine Verschiebung der Arbeitssteuerung in Richtung eines kybernetischen Modells der feedbackbasierten Selbstorganisation beobachten (Raffetseder et al. 2017; Schaupp 2017a; Schaupp und Staab 2018). Aus einer Makroperspektive lässt sich von einem neuen Produktionsmodell sprechen, das sich in bedeutenden Dimensionen vom fordistischen und postfordistischen Produktionsmodell unterscheidet. Zentral ist dabei die Idee der digitalen Plattform, die zugleich eine neue Form des proprietären Marktes wie auch eine neue Form der Organisation mit eingeschränkter Mitgliedschaft darstellt (Nachtwey und Staab 2019; Staab und Nachtwey 2016). Zusammen ergeben diese Verschiebungen eine neue ökonomische Formation, die als digitaler oder kybernetischer Kapitalismus bezeichnet werden kann und mit neuen Formen der Herrschaft, aber auch neuen Autonomiepotentialen einhergeht (Nachtwey und Staab 2015; Schaupp 2017b). Diese Fragen werden am Lehrstuhl derzeit weiter in einem Projekt zur digitalen Entfremdung und Aneignung von Arbeit sowie einem Projekt zur industriellen Technopolitik beforscht.

Digitale Entfremdung und Aneignung von Arbeit: Entfremdungserfahrungen in heterogenen digitalen Arbeitsformen

Projektleitung: Prof. Dr. Oliver Nachtwey
Projektbearbeitung: Mirela Ivanova, Helene Thaa
in Zusammenarbeit mit Friedericke Hardering und Felix Nickel (beide FH Münster)
Projektlaufzeit: 1.9.2019-31.8.2022
Finanziert durch: Schweizer Nationalfonds (SNF)
SNF-ID: 100019E_183669

Ziel des Projektes ist die Entwicklung eines empirisch fundierten Konzeptes digitaler Entfremdung in der Arbeit. Gefragt wird, inwieweit die digitale Arbeit verschiedener Berufsgruppen im Dienstleistungssektor mit spezifischen Entfremdungserfahrungen einhergehen, und welche Bemühungen der Aneignung von Arbeit seitens der Beschäftigten sich finden lassen. Dazu wird ein neuartiger Zugang der Erschließung subjektiver Entfremdungserfahrungen genutzt. Die Untersuchung zielt darauf, Einblicke in die Erfahrungswelten von Beschäftigtengruppen unterschiedlicher Qualifikationsniveaus zu erlangen, um Deutungen und Umgangsweisen mit Entfremdungspotenzialen in der digitalen Arbeitswelt nachvollziehen zu können. Dadurch kann ein gehaltvoller Begriff digitaler Entfremdung entwickelt werden, welcher an die Erfahrungen von Beschäftigten anschließt und die Untersuchung von anderen Leidenserfahrungen in der Arbeit ergänzt. Zentral ist zudem die Entwicklung eines Verständnisses digitaler Entfremdung, welches eine technikdeterministische Perspektive vermeidet, sondern digitale Technologien als strukturierend, aber nicht determinierend fasst. Durch den innovativen Ansatz der empirischen Entfremdungsforschung werden über die engere soziologische Diskussion hinaus auch Erkenntnisgewinne für die philosophische und psychologische Entfremdungsforschung generiert.

Digitalisierung des Post- und Logistiksektors: eine globale arbeitssoziologische Untersuchung in Kooperation mit UNI global union

Projektleitung: Prof. Dr. Oliver Nachtwey
Projektbearbeitung: Jacqueline Kalbermatter, Simon Schaupp, Verena Hartleitner
Projektlaufzeit: 2019-2020
Finanziert durch: UNI global union

Die Studie beschäftigt sich mit der Veränderung industrieller Beziehungen im Post- und Logistiksektor vor dem Hintergrund fortschreitender Digitalisierungsprozesse in verschiedenen Regionen der Welt. Im Zentrum steht die Frage, wie sich der Einsatz digitaler Technologien in diesem Sektor in gewerkschaftlichen Strategien widerspiegelt. Das Projekt hat zum Ziel den Status quo und regional verschiedene Entwicklungsprozesse zu erfassen, wobei die Auswirkungen auf gewerkschaftliche Arbeit im Vordergrund stehen. Die Studie untersucht, welche digitalen Technologien bislang eingesetzt sind, inwiefern sich regional unterschiedliche Entwicklungen in der Digitalisierung des Sektors abzeichnen, wie diese die Arbeitsbedingungen und den Arbeitsmarkt beeinflussen und mit welchen resultierenden Konflikten sich die Gewerkschaften in ihrer Arbeit bereits auseinandersetzen. Methodisch stützt sich die Studie auf eine Befragung von Gewerkschafter*innen in über 100 Ländern. Dadurch können erstmals global Daten erhoben werden zum Umgang von Gewerkschaften mit der digitalen Transformation im Post- und Logistiksektor.

Digitalisierung des Post- und Logistiksektors in der Schweiz in Kooperation mit der Gewerkschaft Unia

Projektleitung: Prof. Dr. Oliver Nachtwey
Projektbearbeitung: Jacqueline Kalbermatter, Simon Schaupp
Projektlaufzeit: 2019-2020
Finanziert durch: Unia

Die Studie untersucht aktuelle Arbeitsbedingungen im Schweizer Logistiksektor. Ein Fokus liegt dabei auf den Auswirkungen der Digitalisierung in diesem Bereich. Wichtig sind dabei insbesondere die Aspekte Gesundheit, Arbeitsintensität, Arbeitszufriedenheit und Datenschutz. Ziel des Projekts ist die Erfassung von Indikatoren der Arbeitsqualität wie auch der subjektiven Belastungsbewertung. Da hierzu keine Daten aus bestehender Forschung vorliegen, wird eine quantitative Befragung in Kooperation mit der Gewerkschaft Unia ausgeführt.

Technopolitik. „Industrie 4.0“ zwischen kybernetischer Utopie und eigensinniger Aneignung

Dissertationsprojekt Simon Schaupp (betreut durch Prof. Dr. Oliver Nachtwey)

Das Projekt untersucht, wie Interessenskonflikte bei der Umsetzung der Programmatik einer „Industrie 4.0“ deren konkrete Ausgestaltung beeinflussen. Diese als Produktionspolitik (Burawoy) im Modus des Technologischen verstandene Aushandlung wird anhand einer qualitativen Fallstudie zur Implementierung digitaler Prozesssteuerung analysiert. Im Zentrum steht dabei der Zusammenhang zwischen den drei Ebenen, auf denen diese Technopolitik stattfindet: Erstens die institutionelle Ebene, auf der die Zukunftsvision „Industrie 4.0“ von Unternehmen, Gewerkschaften, staatlichen Akteuren und Wissenschaft ausgehandelt wird. Zweitens die Ebene der Implementierung dieser Utopie, auf der konkrete Technologieentwicklung und manageriale Versuche zu deren Umsetzung angesiedelt sind. Und drittens die Ebene der handlungspraktischen Aneignung der implementierten Technologien im Arbeitsalltag. Dabei wird davon ausgegangen, dass Logiken der Technikimplementierung meist mit Logiken der handlungspraktischen Aneignung von Technik konfligieren. Denn auf allen drei Ebenen ist die Aushandlung darüber, was „Industrie 4.0“ sein soll geprägt von widerstreitenden Interessen. Eine zentrale Frage der Studie ist dabei, inwiefern Beschäftigte durch eine ‚Technopolitik von unten‘ – in Form von institutioneller Repräsentation aber auch in Form von widerständigem Handeln auf dem Shop-Floor – industrielle Digitalisierungsprozesse beeinflussen können. So soll die Utopie einer kybernetisch sich selbst regulierenden Produktion in ihren produktionspolitischen Kontext gerückt werden. Um diese Technopolitik in ihren diskursiven und nichtdiskursiven Formen erfassen zu können, wird eine Methodentriangulation aus teilnehmenden Beobachtungen, qualitativen Interviews und Dokumentenanalysen in Anschlag gebracht.

Publikationen am Lehrstuhl: